Triage: Neue Impulse aus Deutschland für „positive Handlungspflichten“ des Gesetzgebers
04.02.2022
AutorIn
Josef Peer
Rechtsanwalt
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Triage in der Intensivmedizin gesetzlich geregelt werden muss, um Menschen mit Behinderungen vor Benachteiligung zu schützen. Die Entscheidung zeigt, dass die rechtliche Verankerung einer Triage auch für Österreich ein Thema ist.
Worum geht es in der Entscheidung?
Die Beschwerdeführer, die schwer und teilweise schwerst behindert sind, haben Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht erhoben, weil sie befürchten, im Falle einer (pandemiebedingten) Triage wegen ihrer Behinderung benachteiligt zu werden.
Unter Triage versteht man eine ärztliche Entscheidung darüber, wer eine (intensiv-)medizinische Behandlung erhält, wenn die Kapazitäten nicht ausreichen, um alle Behandlungsbedürftigen zu versorgen (etwa wegen einer zu hohen Anzahl an Patienten). Derzeit sind Triage-Entscheidungen in Deutschland gesetzlich nicht geregelt, es gibt lediglich rechtlich unverbindliche Handlungsempfehlungen von medizinischen Fachverbänden.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat nun mit Beschluss vom 16.12.2021, 1 BvR 1541/20, entschieden, dass der deutsche Gesetzgeber die Triage gesetzlich regeln muss, damit Personen im Falle einer Triage nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden.
Unter welchen Bedingungen ist eine Triage nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes zulässig?
In den Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) ist das „Kriterium der medizinischen Erfolgsaussicht“ zentral. Dieses ist definiert als die „Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankung durch Intensivtherapie zu überleben“. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes ist das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht aus verfassungsrechtlicher Sicht ein zulässiges Auswahlkriterium. Denn dieses Kriterium stellt nicht auf eine Bewertung menschlichen Lebens ab, sondern allein auf die Erfolgsaussichten der nach der aktuellen Erkrankung angezeigten Intensivtherapie.
Vorhandene „Komorbiditäten“ (Begleiterkrankungen) dürfen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts bei der Auswahlentscheidung berücksichtigt werden, allerdings nur insoweit als diese die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer Intensivtherapie erheblich verringern.
Es muss sichergestellt sein, dass allein nach der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ entschieden wird. Die Überlebenswahrscheinlichkeit ist somit ausschließlich bezogen auf die aktuelle Krankheit zu beurteilen.
Das Bundesverfassungsgericht hat Bedenken, dass es dabei zu Fehlprognosen wegen (bewussten oder unbewussten) Vorurteilen kommen kann: Eine Behinderung könnte pauschal mit Komorbiditäten, schlechteren Genesungsaussichten oder höherer Gebrechlichkeit verbunden werden. Auch könnten Vorstellungen von einer schlechteren Lebensqualität oder einer kürzeren Lebenserwartung behinderter und assistenzbedürftiger Menschen zu einer Benachteiligung führen.
Den Gesetzgeber trifft in diesem Fall aufgrund des Benachteiligungsverbots behinderter Menschen (Art 3 Abs 3 S 2 GG) und dem Recht auf Leben (Art 2 Abs 2 S 1 GG) eine konkrete Schutzpflicht. Die Triage muss daher gesetzlich geregelt werden. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass dem Gesetzgeber dabei ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zusteht.
Der Gesetzgeber kann auch Vorgaben zum Verfahren machen, in Betracht kommen etwa:
- Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen;
- Vorgaben zur Dokumentation;
- Regelungen zur Unterstützung vor Ort; oder
- Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege und insbesondere des intensivmedizinischen Personals.
Was bedeutet das für die Triage-Diskussion in Österreich? Wie ist die Rechtslage in Österreich?
Auch in Österreich ist die Triage derzeit gesetzlich nicht geregelt, es gibt – wie in Deutschland – lediglich rechtlich unverbindliche Handlungsempfehlungen von Fachverbänden. So hat etwa die Österreichische Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) eine Handlungsempfehlung mit dem Titel „ICU-Triage im Falle von Ressourcenmangel“ entwickelt.
Der Verfassungsgerichtshof hat sich bisher noch nicht mit der Triage befasst. Eine vergleichbare Entscheidung ist in Österreich auch nicht zu erwarten: Zwar geht auch der Verfassungsgerichtshof davon aus, dass bestimmte Grundrechte Schutzpflichten für den Gesetzgeber begründen können (so etwa beim Recht auf Leben). Die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist in Österreich aber anders ausgestaltet als in Deutschland: Im Unterschied zum deutschen Bundesverfassungsgericht ist der Verfassungsgerichtshof nicht befugt, Gesetzgebungsaufträge wegen grundrechtswidrigen Unterlassens des Gesetzgebers zu erteilen. Interessant ist der Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts aber dennoch auch für Österreich, da er sich mit den positiven Schutzpflichten des Staates befasst und diesen gerade in Zeiten einer Pandemie besondere Bedeutung zu kommt. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts darf als einziges Beurteilungskriterium die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ herangezogen werden, daraus lässt sich ableiten, dass eine diskutierte Triage anhand des Impfstatus unzulässig wäre. Ebenso lässt sich aufgrund der Schutzpflichten des Staates aber – eine Wirksamkeit der Impfung vorausgesetzt – eine Impfpflicht argumentieren.
Fazit
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der deutsche Gesetzgeber die Triage gesetzlich regeln muss, um behinderte Menschen zu schützen. Entscheidendes Kriterium einer Triage darf allein die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ sein; dabei dürfen Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) nur berücksichtigt werden, soweit diese Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern. Der Gesetzgeber kann auch Vorgaben zum Verfahren machen (zB Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen, Dokumentationspflichten, Unterstützung vor Ort, oder Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege). Für Österreich kann es zwar durch den Verfassungsgerichtshof keinen direkten Gesetzesauftrag diesbezüglich an den Gesetzgeber geben, es lassen sich für die rechtliche Diskussion aber einerseits Argumente für eine Impfpflicht aus dem Beschluss ableiten und andererseits eine Unzulässigkeit einer Triage anhand des Impfstatus.
Josef Peer, fwp Rechtsanwalt
Nathalie King, fwp Rechtsanwaltsanwärterin
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Josef Peer
Rechtsanwalt