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EuGH-Rechtsprechung zur Fusionskontrolle: ex ante, ex post und ohne (zeitliche) Grenzen?

05.06.2023 - Lesezeit: 5 Minuten

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Lukas Flener

Partner

Transaktionen von Unternehmen unterliegen ab einer gewissen Größe der Fusionskontrolle und damit einer Vorabprüfung durch die Europäische Kommission. Einmal geprüft und freigegeben, kann man die Transaktion wie angemeldet durchführen. Transaktionen unter der Schwelle unterlagen keiner Kontrolle. So weit, so bekannt. Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 16.03.2023 in der Rechtssache Towercast ändert sich das nun – mit beachtlichen Konsequenzen in der Praxis.

Das Verhältnis der drei Säulen des Kartellrechts, Kartellverbot, Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung und Fusionskontrolle zueinander war bisher davon geprägt, dass sie unabhängig voneinander anwendbar waren. Es waren zwar Fallkonstellationen denkbar, bei denen mehrere Mechanismen zur Anwendung gelangten. In der Regel erfolgte die kartellrechtliche Prüfung im Rahmen der Fusionskontrolle aber seit dem EuGH-Urteil Continental Can bisher ausschließlich im Voraus (ex ante). Kam diese zum Ergebnis, dass der Zusammenschluss nicht anzumelden war, endete die kartellrechtliche Prüfung mit diesem Schritt. Dies ändert sich nun:

Vorverfahren und Ausgangsfall Towercast

In den letzten Jahren waren in Frankreich auf dem Markt für Fernsehübertragungen vor allem drei Gesellschaften aktiv: Télédiffusion de France (TDF), Itas und Towercast. Im Oktober 2016 übernahm TDF, die mit Abstand die größten Marktanteile innehatte, die ausschließliche Kontrolle über Itas. Dieser Vorgang erreichte weder die europäischen noch die nationalen Umsatzschwellen, sodass der Zusammenschluss weder bei der Europäischen Kommission noch bei der französischen Wettbewerbsbehörde anzumelden war und keine Prüfung durch diese Behörden erfolgte.

Towercast verblieb als einziger Konkurrent von TDF am französischen Markt für Fernsehübertragungen und brachte bei der nationalen Wettbewerbsbehörde im November 2017 eine Beschwerde ein, weil die Fusion zu einer erheblichen Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung von TDF und damit zu einem Verstoß gegen das Missbrauchsverbot führen würde. Im Jänner 2020 wies die französische Wettbewerbsbehörde die Beschwerde von Towercast jedoch ab, weil die Anwendbarkeit von Art 102 AEUV ein vom Zusammenschluss klar abgrenzbares, missbräuchliches Verhalten von TDF erfordere.

Dagegen erhob Towercast im März 2020 eine Klage beim Berufungsgericht in Paris (Cour d’appel de Paris). Aufgrund der bislang nicht vorhandenen Rechtsprechung des EuGH zum Verhältnis zwischen der Ex-ante-Fusionskontrolle (FKVO) und der Ex-post-Missbrauchskontrolle (Art 102 AEUV) stellte das Berufungsgericht ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH und wollte von diesem im Wesentlichen wissen, ob Zusammenschlüsse gemäß Art 21 Abs 1 FKVO ausschließlich im Wege der Fusionskontrolle überprüfbar sind („Sperrwirkung“) oder ob auch eine nachträgliche Anwendung von Art 102 AEUV möglich ist.

Entscheidung und Begründung des EuGH

Der EuGH urteilte, dass es den nationalen Wettbewerbsbehörden nicht verwehrt ist, einen Unternehmenszusammenschluss nach Art 102 AEUV zu prüfen und gegebenenfalls zu untersagen, sofern dieser unterhalb der maßgeblichen Umsatzschwellen für eine verpflichtende Ex-ante-Kontrolle liegt und der Fall nicht gemäß Art 22 FKVO an die Europäische Kommission abzutreten ist. Folglich ermöglicht der EuGH durch dieses Urteil eine nachträgliche Überprüfung von Unternehmenszusammenschlüssen durch die Missbrauchskontrolle des Art 102 AEUV, selbst wenn im Vorhinein keine Anmeldepflicht für den Zusammenschluss bestand.

Begründend führte der EuGH unter anderem aus, dass es das primäre Ziel der FKVO sei, dauerhafte Schädigungen des Wettbewerbs durch Umstrukturierungen von Unternehmungen zu verhindern. Daher sei die FKVO zu einer Gesamtheit von Rechtsvorschriften zu zählen, die der Umsetzung von Art 101 f AEUV und somit dem Ziel des unverfälschten Wettbewerbs innerhalb der EU diene. Wenngleich die FKVO das „einzig anwendbare Verfahrensinstrument“ bei der Prüfung von Zusammenschlüssen darstelle, so könne daraus nicht abgeleitet werden, dass der Unionsgesetzgeber den Anwendungsbereich von Art 102 AEUV einschränken wollte. Daher könne Art 21 Abs 1 FKVO zwar die die FKVO zur einzigen maßgeblichen Verfahrensordnung erklären, aber nicht die Anwendung des unmittelbar anwendbaren und höherrangigen Art 102 AEUV verhindern.

Beim Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art 102 AEUV) handle es sich um eine Bestimmung, die keiner weiteren Präzisierung bedürfe und keine taxative Aufzählung an verbotenen Verhaltensweisen enthalte, sodass die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen unter diesen Tatbestand subsumierbar sei. Obwohl die FKVO aus guten Gründen eine Ex-ante-Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen vorsehe, sei aus der Systematik der Verfahrensverordnung zu schließen, dass Fusionen von nicht gemeinschaftlicher Bedeutung einer Ex-post-Kontrolle unterzogen werden können.

Dabei möchte der EuGH die Anwendbarkeit der Ex-post-Kontrolle auf spezifische Fälle beschränken: Das Missbrauchsverbot des Art 102 AEUV soll nur dann zur Anwendung gelangen, sofern (i) die europäischen und nationalen Umsatzschwellenwerte nicht erreicht werden und (ii) keine Verweisung an die Europäische Kommission nach Art 22 FKVO stattgefunden hat.

Darüber hinaus wollte der EuGH keine zeitlichen Begrenzungen der Urteilswirkungen vornehmen, womit nachträgliche Kontrollen auch bei Unternehmenszusammenschlüssen, die bereits im guten Glauben unterhalb der Umsatzschwellen vollzogen wurden, möglich wären.

Konsequenzen für die Praxis

Die praktischen Auswirkungen der Entscheidung zeigen sich schon jetzt: Bereits eine Woche nach der Veröffentlichung des Urteils leitete die belgische Kartellbehörde ein Missbrauchskontrollverfahren gegen das belgische Unternehmen Proximus wegen der Übernahme von edpnet ein – mit ausdrücklichem Verweis auf die Erkenntnisse des EuGH. Dementsprechend sollte bei Unternehmenszusammenschlüssen in Zukunft auch eine stärkere Risikoeinschätzung anhand des Missbrauchsverbots des Art 102 AUEV erfolgen, um nachteilige Konsequenzen für die beteiligten Unternehmen zu verhindern. Inwiefern all dies mit dem ökonomischen Grundgedanken des Kartellrechts vereinbar ist (Stichwort: übermäßige Beschränkung der Privatautonomie und des Wettbewerbs), erscheint aktuell jedoch fraglich.

Im Ergebnis wird das Towercast-Urteil des EuGH die bisherige Fusionskontrollpraxis bedeutend verändern, schließlich können die zuständigen Behörden fortan Unternehmenszu-sammenschlüssen nachträglich überprüfen und gegebenenfalls untersagen. 
 

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Lukas Flener

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